Studie zum Ausbaupotenzial der Wasserkraft in der Schweiz

Bern, 02.09.2019 - Die schweizerische Wasserkraft trägt heute mit gegen 60 Prozent massgeblich zur inländischen Stromproduktion bei. Der Erhalt und weitere Ausbau dieser erneuerbaren Energiequelle ist daher ein erklärtes Ziel der Energiestrategie 2050. Das geltende Energiegesetz legt für das Jahr 2035 eine durchschnittliche Jahresproduktion von mindestens 37‘400 Gigawattstunden (GWh) als Richtwert fest. Gemäss Botschaft zur Energiestrategie 2050 soll dieser Wert bis 2050 auf 38‘600 GWh ansteigen. Eine neue Studie des Bundesamts für Energie (BFE) untersucht, ob dieser angestrebte Ausbau aufgrund der vorhandenen Potenziale erreicht werden kann.

Die Richtwerte im Energiegesetz und in der Botschaft zur Energiestrategie 2050 basieren auf einer Analyse des Wasserkraftpotenzials, die das BFE im Jahr 2012 (siehe Link) erarbeitet hatte. Ausgehend vom Basisjahr 2011 wurde damals das Ausbaupotenzial für die schweizerische Wasserkraft bis zum Jahr 2050 auf eine Bandbreite von 1'530 GWh/Jahr unter den geltenden Nutzungsbedingungen bis 3'160 GWh/Jahr unter optimierten Nutzungsbedingungen geschätzt.

Das BFE hat diese Potenzialanalyse nun aktualisiert, da sich seither sowohl die wirtschaftlichen als auch einige gesetzliche Rahmenbedingungen geändert haben (siehe Kasten). Beigezogen wurden dafür alle relevanten Akteure (Strombranche, Energiefachstellen der Kantone, Wissenschaft, Umweltverbände und Bundesbehörden). Ziel war, die angestrebten Ausbau-Richtwerte auf ihre Erreichbarkeit zu überprüfen.

Resultate

Zubau seit 2012: Die durchschnittliche Produktionserwartung gemäss Statistik der Wasserkraftanlagen der Schweiz (WASTA) plus der Produktionserwartung der Kleinstwasserkraftwerke (< 300 kW installierte Generatorleistung) abzüglich des mittleren Strombedarfs der Zubringerpumpen lag 2012 bei 35'350 GWh/Jahr und per 1. Januar 2019 bei 35'990 GWh/Jahr. Die durchschnittliche Jahresproduktion durch Neubauten, Erneuerungen und Erweiterungen hat also um 640 GWh/Jahr zugenommen.

Potenzial Grosswasserkraft kaum verändert: Das Potenzial neuer Grosswasserkraftwerke (Leistung grösser 10 MW) wurde anhand einer aktualisierten Liste von rund 30 konkreten Neubauprojekten abgeschätzt, die bereits 2012 bekannt waren. Bis 2050 liegt deren Potenzial bei 760 - 1'380 GWh/Jahr (2012: 770 - 1'430 GWh/Jahr). Das Potenzial von Erweiterungen und Erneuerungen bestehender Grosswasserkraftwerke beträgt 970 - 1'530 GWh/Jahr (2012: 870 - 1'530 GWh/Jahr).

Potenzial Kleinwasserkraft deutlich tiefer: Das Potenzial von neuen Kleinwasserkraftwerken (Leistung kleiner 10 MW) sowie von Erneuerungen und Erweiterungen wurde, wie 2012, anhand der aktuellen Anmeldeliste für die Einspeisevergütung und der Realisierungswahrscheinlichkeit der Projekte abgeschätzt. Das Potenzial bis 2050 liegt demnach bei 460 - 770 GWh/Jahr und damit deutlich tiefer als 2012 (2012: 1'290 - 1'600 GWh/Jahr). Zusätzlich muss mit einem Wegfall geplanter oder bestehender Kleinwasserkraftwerke gerechnet werden, die ohne Förderung nicht rentabel sind oder vom Netz gehen, sobald eine grössere Erneuerungsinvestition ansteht. Dieser Verlust wird auf -350 GWh/Jahr unter den geltenden Nutzungsbedingungen und auf -220 GWh/Jahr unter optimierten Nutzungsbedingungen geschätzt. In der Summe ergibt sich daraus ein Potenzial bis 2050 von 110 - 550 GWh/Jahr. Das ist deutlich tiefer als 2012 (2012: 1'290 - 1'600 GWh/Jahr).

Deutlich höhere Produktionsverluste durch Restwasserbestimmungen: Die Restwassermengen sind seit Inkrafttreten des Gewässerschutzgesetzes im Jahr 1992 bei Neukonzessionierungen oder bei Erneuerungen bestehender Konzessionen einzuhalten.  Ein grosser Teil der gegenwärtigen Konzessionen wird zwischen 2030 und 2050 ablaufen. Neu werden die Produktionsverluste bis 2050 auf 1'900 GWh/Jahr geschätzt (2012: 1'400 GWh/Jahr). Die neue Schätzung wurde anhand einer Analyse von 107 bis Ende 2017 erteilten Konzessionen erstellt. Da diese Stichprobe nur einen kleinen Teil der bis 2050 ablaufenden Konzessionen betrifft, wird erst eine künftige Analyse belastbare Aussagen zur Minderproduktion machen können. Nicht quantifiziert wurden ausserdem die Auswirkungen der Sanierungsvorschriften (Fischgängigkeit, Schwall und Sunk, Geschiebetrieb), da heute erst wenig Erfahrungen mit einer kleinen Zahl an konkreten Projekten vorliegen.

Nicht berücksichtigtes Potenzial: In der Analyse nicht berücksichtigt wurde einerseits das Potenzial von neuen Gletscherseen, das auf rund 700 GWh/Jahr geschätzt wird, sowie das Potenzial von Projekten, die von der Strombranche aus Vertraulichkeitsgründen nicht offengelegt wurden. Das geschätzte Potenzial bis 2050 könnte dadurch um mehrere hundert Gigawattstunden Jahresproduktion höher sein.

Schlussfolgerungen

  • Im Vergleich zur Studie 2012 liegt das geschätzte Ausbaupotenzial bis 2050 unter optimierten Nutzungsbedingungen um rund 1'600 GWh/Jahr tiefer. Abzüglich des zwischen 2012 und 2019 erfolgten Zubaus von 640 GWh/a beträgt die effektive Differenz 960 GWh/Jahr.
  • Der im geltenden Energiegesetz festgelegte Ausbaurichtwert bis 2035 ist erreichbar. Allerdings muss dazu fast das gesamte bis 2050 ausgewiesene Potenzial bereits bis 2035 realisiert werden. In den kommenden Jahren ist dafür ein Netto-Ausbau von durchschnittlich 85 GWh/Jahr nötig (seit 2011 lag dieser im Durchschnitt bei 87 GWh/Jahr).
  • Ob der in der Botschaft zur Energiestrategie 2050 postulierte Ausbaurichtwert bis 2050 erreicht werden kann, bleibt aufgrund der vorliegenden Analyse unklar. Das geschätzte Potenzial bis 2050 könnte durch die Realisierung des Potenzials von Gletscherseen und heute noch nicht bekannten Neubauprojekten um mehrere hundert Gigawattstunden Jahresproduktion höher sein. Der Ausbau dieses Potenzials durch die Strombranche wird jedoch massgeblich von der Entwicklung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen für die heimische Wasserkraft abhängen.

Energieperspektiven 2050+

Seit der Gesamtenergiekonzeption von Mitte der 1970er Jahre erarbeitet das Bundesamt für Energie BFE periodisch Energieperspektiven. Diese sollen die Optionen für die Planung einer langfristigen, nachhaltigen Energiepolitik aufzeigen. Die Energieperspektiven 2050 wurden im Rahmen der Ausarbeitung des ersten Massnahmenpakets der Energiestrategie 2050 erstellt. Derzeit laufen die Arbeiten zu den Energieperspektiven 2050+, die in der zweiten Hälfte 2020 vorliegen sollen. Die Ergebnisse der vorliegenden Potenzialanalyse werden zusammen mit vielen weiteren Analysen zur Entwicklung von Energieverbrauch und -produktion, Wirtschaft, Mobilität oder Technologien in die Energieperspektiven 2050+ einfliessen. Das Potenzial unter optimierten Nutzungsbedingungen wird für die Modellierung des Klimaszenarios der Energieperspektiven verwendet, jenes unter bestehenden Nutzungsbedingungen für das Referenzszenario. Unter optimierten Nutzungsbedingungen wird ein besseres wirtschaftliches Umfeld für die Schweizer Wasserkraft, und eine stärkere Berücksichtigung der Nutzungsinteressen der Wasserkraft sowie eine ausgewogene Umsetzung der ökologischen Vorschriften gemäss geltender Vollzugspraxis verstanden.

Veränderungen der Rahmenbedingungen für die Wasserkraft seit 2012

Förderung
Seit 2018 (Inkrafttreten des neuen Energiegesetzes) gibt es Investitionsbeiträge für die Gross- und Kleinwasserkraft (bis 2030 rund 60 Millionen Franken pro Jahr) sowie eine Marktprämie für die Grosswasserkraft (bis 2022 100 Millionen Franken pro Jahr). Weiter müssen Behörden die Schutz- und Nutzungsinteressen bei der Bewilligung grosser Wasserkraftanlagen grundsätzlich gleich gewichten (nationales Interesse). Kantone müssen für die Nutzung der Wasserkraft geeignete Gewässerstrecken in ihren Richtplänen festlegen. Kleinwasserkraftanlagen mit einer Leistung kleiner als 1 MWbr werden seit 2018 nicht mehr ins Einspeisevergütungssystem aufgenommen. Ab 2023 werden generell keine Neuanlagen mehr in das Einspeisevergütungssystem aufgenommen.

Wirtschaftliches Umfeld
Die Strommarktpreise waren zwischen 2009 bis 2016 auf ein Tief von rund 4 Rp./kWh gesunken. In der Zwischenzeit sind die Marktpreise wieder auf rund 6 Rp./kWh und damit auf ein Niveau gestiegen, bei dem die bestehenden Kraftwerke im Durchschnitt eine markt- und risikogerechte Eigenkapitalrendite von rund acht Prozent erzielen können.

Hydrologische Rahmenbedingungen
Seit der letzten Potenzialstudie haben sich die natürlichen hydrologischen Rahmenbedingungen nur geringfügig verändert. Dies wird in Abhängigkeit des fortschreitenden Klimawandels jedoch künftig stärker der Fall sein. Das Abschmelzen der Gletscher wird in den nächsten Jahrzehnten zu höheren Abflussmengen führen und damit verbunden zu einer höheren Wasserkraftproduktion. Sind sie jedoch abgeschmolzen, fehlt deren natürliche Speicherfunktion für die anfallenden Niederschläge. Der Effekt kann teilweise aufgefangen werden, wenn die frei werdenden Geländemulden für Stauseen genutzt werden.

Politisches Umfeld
Die künftige Ausgestaltung des Strommarkts betrifft auch die Wasserkraft: Die Vernehmlassung zur Revision des Stromversorgungsgesetzes (StromVG) ist Ende Januar 2019 zu Ende gegangen. Über die weiteren Schritte wird der Bundesrat demnächst entscheiden. Weiter hat das Parlament im März 2019 beschlossen, das bundesrechtliche Maximum für den Wasserzins bis 2024 bei 110 CHF/kWbr zu belassen. Schlussendlich stehen in den kommenden Jahrzehnten eine Vielzahl von Konzessionserneuerungen von grösseren Wasserkraftwerken an. Dabei gilt es jeweils, die Heimfallregelungen zu diskutieren und die Bedingungen für die Wasserkraftnutzung für weitere maximal 80 Jahre festzulegen. Es ist wahrscheinlich, dass dies auch Auswirkungen auf Eigentums- und Betriebsstrukturen der Schweizer Wasserkraft haben wird. Bei den Konzessionserneuerungen müssen die Restwasserbestimmungen für Neuanlagen angewandt werden, was zu Auswirkungen auf die Produktion führt, ebenso wie Sanierungsbestimmungen betreffend Geschiebe, Fischgängigkeit und Schwall-Sunk.


Adresse für Rückfragen

Marianne Zünd, Leiterin Kommunikation BFE
058 462 56 75, marianne.zuend@bfe.admin.ch



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